Vortrag von Thilo Figaj am 03.03.2020 um 19 Uhr im Paul-Schnitzer-Saal
ca. 60 min / Freier Eintritt
Die Geschichte der Juden in Deutschland wird meistens nur von ihrem tragischen Ende her erzählt. Alles, was jenseits der Zeit der letzten Familien liegt, die vor nunmehr 90 Jahren aus unserem Ort verschwunden sind, ist in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vorhanden. Das ist umso bedauerlicher, als dass damit auch ein bedeutender Teil unserer eigenen kulturellen Identität verloren zu gehen droht.
Das trifft auch für Lorsch und für unsere Ortsgeschichte, ja selbst für die Lorscher Mundart zu. Bekannt ist vielleicht noch, dass die Geschichte der Tabakverarbeitung von Juden entscheidend mitgeschrieben wurde. Wer aber waren die ersten Juden in Lorsch, wann kamen sie, woher kamen sie, und welche Spuren haben sie in der Geschichte unserer Stadt hinterlassen?
Es beginnt mit dem Erscheinen eines Juden im Kloster an Ostern des Jahres 1065. Wer war dieser Mann? Ist er historisch überhaupt greifbar, und warum ist er dem Chronisten einen ganzen Abschnitt im Lorscher Codex wert gewesen? Wie kann das Auftreten dieser Figur in den Kontext seiner Zeit eingeordnet werden?
Dauerhaft niedergelassen haben sich jüdische Familien in Lorsch erst ab dem 30-jährigen Krieg. Überliefert ist das in den ersten Protokollen des Ortsgerichtes, die im Pestjahr 1634 beginnen. Bei Kriegsende hatte das Weiße Kreuz, das damals noch zum Klosterbesitz, und damit dem Mainzer Kirchenstaat gehörte, einen jüdischen Pächter. Auch das Gelände des trockengelegten Lorscher Sees war Mainzer Staatsdomaine und wurde ab dem frühen 18. Jahrhundert über mehrere Jahrzehnte an Juden verpachtet. Der bedeutendste von ihnen, Moses Kann, war damals der reichste Mann der Frankfurter Judengasse und Hofjude in Mainz und Darmstadt. Auf dem Gebiet des Seehofes gediehen schon damals Sonderkulturen, neben dem Tabak auch der Hopfen. Aus der ehemaligen Mainzer Domaine entwickelte sich in früher hessischer Zeit das Dorf Seehof.
1725 notierte sich der neue Lorscher Pfarrer Johannes von Steden zum Jahresende in das Pfarrbuch, dass er es nicht vergesse, das Synagogicum von der Lorscher Judenschaft einzufordern. Diese Notiz ein seltener lokaler Beleg für die Durchsetzung der damals gerade wieder einmal neu gefassten Mainzer Judenordnung und der erste direkte Nachweis für die Existenz einer Synagoge, mindestens jedoch einer Betstube für regelmäßigen Gottesdienst in Lorsch.
Von nun an begegnen wir den jüdischen Unternehmern und Nachbarn regelmäßig in den Ortschroniken. Durch Vieh- und Markthandel ergänzen sich Erzeuger (die Bauern) und Händler (die Juden) bald in einer Weise, die für die nächsten zweihundert Jahre prägend für den süddeutschen Raum wurde. Es war der Beginn der Erfolgsgeschichte der Landjudenschaft.
Einem besonderen Glücksfall ist es zu verdanken, dass die Abschrift des Memorbuchs der Lorscher Juden die NS-Zeit überlebt hat. Darin, und in den frühen Dokumenten der Gemeinde werden endlich auch Personen namentlich greifbar, die Lorsch als Heimat ihrer Familien gewählt hatten, die dann über viele Generationen die Entwicklung und Prosperität der Gemeinde gemeinsam mit ihren christlichen Nachbarn in Frieden und Eintracht voran getrieben haben.
Bildunterschrift:
Der Pächter der Lorscher Staatsdomaine Seehof, der wohlhabende Mainzer Hofjude Moses Kann, war auch Oberrabbiner von Hessen Darmstadt. Er finanzierte 1756 den Amsterdamer Druck des Babylonischen Talmud, ein grundlegendes Werk der jüdischen Religion. Bild: Thilo Figaj
Der Besuch der Veranstaltung ist kostenfrei. Der Heimat- und Kulturverein Lorsch bittet jedoch um eine Spende zugunsten der Aktion Stolpersteine, die auch in diesem Jahr weiter geführt wird.