Banner 1250x251 Juedisches Lorsch III

Das jüdische Lorsch

Juden kamen etwa ab 1623 nach Lorsch, das in diesem Jahr des 30-jährigen Krieges wieder zurück an Kurmainz gefallen war. Während der Pfälzer Lehenschaft war ihnen eine Ansiedlung nicht erlaubt gewesen. Für die Zeit davor, des Spätmittelalters, gibt es einige Hinweise auf Juden, die schon früher in Lorsch gelebt hatten.

Die ersten beiden Familien die nun kamen, sahen das alte Reichskloster noch in seiner ganzen Ausdehnung. Die Mehrzahl der Bauten wurde aber bald abgetragen um Steine für den Neubau von Häusern und Pfarrkirche zu erhalten. Der Krieg hatte die Region verwüstet, aber er hatte auch die Gettos der Juden geöffnet. Die, die nach Lorsch kamen, stammten aus Mainz und aus dem benachbarten Worms, der tausendjährigen Wiege des aschkenasischen Judentums. Kurfürsten und die Herrscher der Kleinstaaten warben in dieser Zeit des Neuaufbaus um ihre Ansiedlung auf dem Lande und es begann das Zeitalter der Hessischen Landjudenschaft mit all seinen vielfältigen Betätigungsfeldern.

Sogar die Landwirtschaft war Juden in nach-napoleonischer Zeit zugänglich gemacht worden und sie kauften eigene Weideflächen für ihr Vieh, vor allem für den Handel damit. Innerhalb eines Jahrhunderts waren sie fest etabliert. Lorsch mit seinem aufstrebenden Tabakanbau und –handel bot weitere Geschäftsmöglichkeiten. Der Siegeszug der Zigarre begann in Lorsch mit der Einrichtung der ersten Fabrik im aufgegebenen Stadtpalais der Familie von Hausen. Die Gebrüder Lazarus und Zacharias Morgenthau begründeten 1856 eine Industrie, die für die nächsten einhundert Jahre die Struktur des Ortes prägte. Lazarus ging 1866 in die USA, er ist der Vater und Großvater der bekannten New Yorker Politikerdynastie Henry Morgenthau Sr. und Jr. (Morgenthau-Plan). Zacharias lebte bis zu seinem Tode 1898 in Lorsch. Sein Grab ist, wie das aller Lorscher Juden auf dem Verbandsfriedhof der Jüdischen Gemeinden der Region in Alsbach. Ein weiterer Lorscher Jude, der es zu Ruhm und Ehre in der Neuen Welt brachte, war der Komponist und Klavierbauer Julius Krakauer (1843-1912), ebenfalls in New York.

Als die Eisenbahn 1869 nach Lorsch kam, hatte der Ort mit 2,8% den höchsten jüdischen Anteil an seiner Bevölkerung von damals 3.300 Einwohnern. Die Städte Worms, Darmstadt, Mannheim und Frankfurt waren nun nur noch eine gute Stunde entfernt und boten jungen Leuten neue Erwerbsmöglichkeiten. Vom Rathaus, in dessen unmittelbarer Umgebung sich die ersten Juden niedergelassen und ihre Hausstände begründet hatten, führt die Straße zum Bahnhof. An ihr lagen ab dem 19. Jahrhundert die Mehrzahl der jüdischen Geschäfte, Kolonialwaren- und Eisenhandel, Häute und Felle, Holz- und Kohlehandel und Textilgeschäfte. Aus dem Hauthandel gingen später die Lederhändler und Schuhmacher hervor. 1910 war die Stadt auf 4.500 Einwohner gewachsen. Immer mehr Juden zog es nun zurück in die großen Städte, ihr Anteil in Lorsch sank auf 1,5%, 72 Köpfe.

Synagoge von 1884, Ansicht aus der Bahnhofstraße, Aufnahme ca. 1920

1884 errichteten die Lorscher Juden ihre neue Steinsynagoge. Die Gemeinde zählte auf ihrem Höhepunkt 110 Mitglieder, in etwa zwölf Familien. Die Ostfassade mit ihren Zwillingstürmen war in der Bahnhofstraße 10. Das Eingangsportal lag zurückversetzt hinter anderen Einrichtungen der jüdischen Gemeinde, Schulhaus und Ritualbad, in der Kirchstraße auf dem Grundstück eines Vorgängerbaus aus dem 18. Jahrhundert. Architekt war der Heppenheimer Stadtbaumeister Franz Anton Klein (1847-1894), ein Lehrer Heinrich Metzendorfs.

Das Sand- und Ziegelsteingebäude im Stil des Eklektizismus war die erste Synagoge ihrer Art in der Region. Die Summe der Gewerke für ihre Errichtung betrug 7.100 Gold-Mark. Zusätzlich wurden 30.000 Ziegel und 400 Zentner Kalk benötigt. Sie bot Platz für 82 Männer und 36 Frauen auf der hölzernen Galerie. Es war eine beachtliche Leistung für die wenigen Familien des Ortes; die Synagoge entstand zehn Jahre vor dem Bau der evangelischen Kirche in Lorsch.

Sie wurde während der Novemberpogrome 1938 von auswärtigen und einheimischen Nationalsozialisten durch Brand zerstört und noch im Dezember des gleichen Jahres auf Anordnung des Gemeinderates vollständig abgetragen.

 

Aus ihrem Schutt geborgen und über Jahrzehnte versteckt gehalten wurden einige wenige Relikte, wie die Teile des zerstörten Toraschildes. Ihre historische Bedeutung wurde erst spät durch die Übersetzung der Gravuren offenbar. Der Lorscher Toraschild wurde von drei Söhnen des 1801 verstorbenen Löb ben Hirz bereits vor 1813 gestiftet und diente somit bereits im Vorgängerbau als Toraschmuck. Ein Haus mit Bet-Stube und Lehrerwohnung hatte Löb bereits Mitte des 18. Jahrhunderts für die jüdische Gemeinde erworben. Hier tagte jährlich die Chevra Kadisha der Region, ein jüdischer Verein, der 1739 mit Sitz in Lorsch gegründet wurde. Die Beerdigungs- und Wohltätigkeitsbruderschaft war der zweitälteste Verein dieser Art im Kirchenstaat Kurmainz.

An der Außenseite der Ostfassade der 1884 an gleicher Stelle neu gebauten Synagoge ist unterhalb des „Jerusalem-Fensters“ auf der historischen Aufnahme die Struktur eines Sandsteinreliefs zu sehen. Hierbei handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Hochzeits- bzw. Trau- oder „Chuppa“-stein. Reliefs mit Steinrosetten und Segenssprüchen zur Trauung waren verbreitet an den Fassaden der Synagogen in der Region. Sie befanden sich üblicherweise in dieser Höhe. An sie warf der Bräutigam sein Weinglas, und die Gemeinde wünschte dem Paar Glück und Segen, „Masal-Tov“. Der Lorscher Traustein wird ebenfalls vom Vorgängerbau gestammt haben. Zur Zeit der Errichtung der neuen Synagoge hatten sich die Bräuche bereits verändert, das Weinglas wurde nun zertreten. Dies ist der zeremonielle Abschluß der Trauung.

Fundstück aus den Trümmern der Lorscher Synagoge.

Bis zur Machtergreifung war das Verhältnis der Juden zu ihrem Ort und den Einwohnern untereinander ausgesprochen gut und von keinerlei Misstrauen oder Neid geprägt. Die Strukturen im ländlichen Raum ergänzten sich, die christlichen Landwirte und Bauern und die jüdischen Händler bedingten einander in ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Betätigung. So gelang es den Nationalsozialisten erst spät und nur mit den Mitteln der Gestapo, einen Keil in das Verhältnis der Bauern und jüdischen Viehhändler zu treiben, so sehr hatten sich die Strukturen über dreihundert Jahre gefestigt. Wie andernorts auch, waren Juden Mitglieder in vielen Vereinen, aber nichts zeigt das gute Miteinander in Lorsch besser als der Umstand, dass katholische Kirche und jüdische Gemeinde einen gemeinsamen Kirchenrechner bestellt hatten. Das Gehalt des Pfarrers und der Lohn des Kantors wurden bis Beginn der 1930er Jahre in einem Rechenschaftsbuch geführt; christliche und jüdische Buchungen in Chronologie und ohne weitere Sortierung.

 

Die jüdische Schule von 1911

Die Abwanderung aus dem ländlichen Raum, die zum Ende des Kaiserreiches verstärkt einsetzte, hatte mit Antisemitismus nichts zu tun, sie war allein wirtschaftlich begründet. 1933 zählten die Nationalsozialisten 66 jüdische Einwohner im Ort. Bis zum Kriegsausbruch 1939 waren die meisten von ihnen fort gezogen oder ausgewandert. Allerdings kam es durch die Verfolgungen auch zu Binnenwanderungen und Zuzug aus anderen Orten. Einigen Familien – aber leider nicht allen – kam der Umstand zu Gute, dass ihre schon Jahrzehnte zuvor nach Amerika oder Südafrika gegangenen Mitglieder bei der Beschaffung von Visa behilflich waren.

Alle 1942 noch in Lorsch wohnenden 18 Juden wurden deportiert und ermordet. Die Webseiten Alemannia-Judaica und das Online-Gedenkbuch des Bundesarchivs geben weitere Auskünfte zu Einzelschicksalen. Die Lorscher Bürger gedenken jährlich dieser und weiterer 22 gebürtiger Lorscher, die aus anderen Orten in Europa verschleppt und Opfer der Shoa wurden. Der Heimat- und Kulturverein ist in Lorsch Träger der Initiative Stolpersteine. Dadurch ist der Kontakt zu einigen Familien wieder hergestellt worden und es gibt einen regen persönlichen Austausch. Die Initiative soll in den kommenden Jahren allen Lorscher Opfern des Nationalsozialismus einen Stein widmen, ungeachtet, ob es sich dabei um ermordete oder geflüchtete Personen handelt.

Quelle Bilder: Thilo Figaj

Virtuelles Jüdisches Museum / Virtual Jewish Museum

Wir laden Sie zu einem Besuch in unser virtuelles Jüdisches Museum ein. Das Besondere der kleinen Judaica Sammlung ist es, dass die Hälfte der Objekte einen unmittelbaren Bezug zu Lorsch hat. Selbst dann, wenn man es auf den ersten Blick gar nicht vermutet. Die Sammlung lässt sich mit Schlagworten durchsuchen. Gehen Sie auf Entdeckungsreise in die Vergangenheit! Alle Texte sind in Deutsch und Englisch.

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We invite you to visit our virtual Jewish Museum. The special aspect of this little Judaica collection is that about on half of the objects have a direct relation to Lorsch. Even if you do not assume it at first sight. The collection can be searched with keywords. Embark on a journey of exploration into the past! All texts are in German and English.

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Das jüdische Lorsch

Ansprechpartner: Thilo Figaj

 
Tel.: 06251-55968

Interessante Links

Alemannia Judaica: http://www.alemannia-judaica.de/lorsch_synagoge.htm

Gedenkbuch des Bundesarchivs: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/
 
 

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