Ein Artikel von Thilo Figaj, veröffentlicht am 24. April 2012 in „Echo online“
Geschichte – In Lorsch pulsierte wie in vielen anderen Orten der Region das jüdische Leben – Im Jahr 1942 wurde es von den Nationalsozialisten systematisch ausgelöscht.
Für Lorsch gelte, so eine 2009 veröffentlichte Untersuchung ‚zur Klärung des Nationalsozialismus‘, dass der Ort ‚mit diesen Zahlen weder besonders aktiv noch passiv‘ gewesen sei. Die weitgehend namenlose statistische Erkenntnis lässt der Aufsatz als abschließendes Urteil im Raum stehen und stößt damit bei mindestens denjenigen auf Unbehagen, die es aus Überlieferungen – oder aus eigenem Erleben – besser wissen.
Die Erforschung der jüngeren Geschichte erfolgte immer nur bis zu jenem Punkte, an dem erklärt werden muss, wie eine ehedem blühende jüdische Gemeinde spurlos aus der Mitte des Ortes verschwand, samt ihrer Synagoge, ihrer Menschen und Besitztümer. Allein eine Schülerzeitung traute sich 1985 weiter vor. Ihr verdankt Lorsch die ersten veröffentlichten Zeugnisse Lorscher Überlebender der Shoa. Dagegen sind die 38 Namen von Lorschern vergessen, die der Shoa zum Opfer fielen.
Dabei kann noch heute gut nachvollzogen werden, wie auch in Lorsch über die Staatspolizeistellen, die Landräte und Bürgermeister den Deportationsbefehlen Adolf Eichmanns, Leiter des ‚Judenreferats‘ im Berliner ‚Reichssicherheitshauptamt‘, Folge geleistet wurde. Die Meldekarten der Deportierten weisen verzogen nach ‚unbekannt‘ aus, so wie es Eichmann verlangte.
Aber da war ja noch diese Datumsspalte, die konnte in einer Behörde nicht leer bleiben. Und so setzte ein treuer Diener des Dritten Reiches seine ganze Fantasie ein und kritzelte irgendetwas und bei jedem etwas anderes hinein; nur nicht die Wahrheit.
Seither wurden diese Daten nie mehr korrigiert. Sie stehen auf einer billigen Plastiktafel in der Bahnhofstraße Lorsch. Dass sie unplausibel waren, störte offenbar niemanden, auch nicht, dass den Opfern damit das letzte Stückchen Identität genommen wurde: den Hinweis auf den Zeitpunkt ihres Todes. An dieser Stelle wird Verdrängen sichtbar, und nur genaues Nachschauen wirkt hier als Gegenmittel.
1923 kommt in der Lorscher Bahnhofstraße 14 Ruth Carola Kahn zur Welt. Das Mädchen ist die erste von vier Töchtern des jüdischen Viehhändlers Karl Kahn, der aus Sickenhofen bei Babenhausen stammt. Dessen Frau Paula, Jahrgang 1902, stammt aus der Familie Lorch, die es in der Klosterstadt zu einigem Wohlstand und Ansehen gebracht hatte. Lorscher Juden hatten wesentlich früher als in der Umgebung nach 1821 das Ortsbürgerrecht beantragt und auch erhalten. Simon Krakauer zum Beispiel: Mit seinem in Lorsch geborenen Sohn Julius und dessen Bruder David begründet er 1869 die Pianofabrik ‚Krakauer Brothers‘ in New York.
Die Lorchs bleiben im Großherzogtum. Ihnen gehören um 1890 weite Areale der Ortsmitte, die Hofreiten der Bahnhofstraße gehen durch bis zur Kirchstraße. Dieser Umstand erlaubt es der jüdischen Gemeinde, eine stattliche Synagoge in der Bahnhofstraße zu errichten. Um sie herum pulsiert das jüdische Leben.
Auf Ruth folgen weitere Töchter: Miriam (1925), Liesel (1926) und schließlich Suse (1929). Nachdem Paulas Vater Jakob 1928 gestorben ist, kommt ihr Bruder Alfred mit seiner Familie aus Bensheim zurück in seine Heimatstadt und übernimmt als Oberhaupt der Familie den Holzhandel und wenig später auch den Vorsitz der jüdischen Gemeinde. Mit ihm und seiner Frau Franziska kommen Sohn Martin (1927) und die gerade geborene Margarethe (1931) an den Stammsitz der Familie. Im Sommer 1929 wird Ruth Kahn eingeschult. Auf dem Klassenfoto sehen wir ein ernstes, ausnehmend hübsches Mädchen. Die Kinder der Lorscher Juden gehen selbstverständlich gemeinsam mit ihren Altersgenossen zur Schule.
Nur wenige Jahre später ist alles anders: Der frisch ins Amt gehievte Wormser Polizeidirektor Heinz Jost, ein Lorscher, lässt Missliebige ins KZ Osthofen bringen. Am 26. August 1933 überschreibt die Frankfurter Zeitung den Polizeibericht aus Worms: ‚Letzte Warnung an die Juden‘. Eine größere Anzahl aus Worms und Umgebung sei im KZ Osthofen in Haft genommen, vermeldet Josts Staatspolizeistelle.
Aus dieser Zeit berichtet nach dem Krieg die Witwe des Lorscher Juden Siegbert Mann, die Katholikin Betty Mann, von der ersten Verhaftung ihres Mannes: Der Lederhändler ist nach Worms gefahren, aber nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Statt seiner stehen plötzlich mehrere SA- oder SS-Männer in der Lorscher Bahnhofstraße 18. Sie bedrängen die schwangere Frau und pressen ihr drei Mark als Fahrgeld für die Rückfahrt nach Worms ab. Sie sucht Beistand bei Nachbarn.
Die wissen im Gegensatz zu ihr von Josts Stellung und raten ihr, selbst nach Worms zu fahren und ihr Glück direkt beim Polizeichef zu suchen, was sie auch tapfer tut. Siegbert Mann kommt ein paar Tage nach der Intervention seiner Frau wieder frei, nur um wenig später wieder für einen Monat in Haft zu verschwinden. Angeblich hat er sich als Parteigenosse ausgegeben.
Paula Kahn gibt 1934 ihr kleines Manufakturwarengeschäft in Lorsch auf und zieht mit Mann und den vier Töchtern nach Babenhausen. Karl Kahn hofft, hier den Lebenserwerb für seine Familie auf solidere Füße zu stellen, als er das in Lorsch kann. Er besitzt in Babenhausen eine Hofreite und zwei Morgen Land. Der Viehhandel ist eine Domäne der hessischen Juden, und in Lorsch war die Konkurrenz der Juden untereinander groß. Jetzt wird es noch schwerer. Auch die Bauern sind in der Zwickmühle. Der Umgang mit den Juden ist verpönt, aber ausgerechnet sie haben den Zugang zu den Schlachthöfen. Geschäfte werden nur noch heimlich gemacht. Die Gestapo Darmstadt fordert am 22. April 1936 alle Kreis- und Polizeiämter zur Denunziation Beteiligter auf. Schließlich werden die Juden, teilweise mit Gewalt, aus den Schlachthöfen gejagt. Kahn ist mutig, er wehrt sich. 1937 klagt er gegen den Viehwirtschaftsverband Hessen Nassau.
Die Kinder der Lorscher Juden dürfen keine Regelschulen mehr besuchen. Sie fahren täglich nach Worms, drangsaliert von Hitlerjungen, oder sie besuchen die jüdischen Schulen in Darmstadt und Frankfurt. Margarethe und Martin Lorch wohnen dort bei Verwandten und Bekannten. Aus Lorsch müssen ihre Eltern sie abmelden und bei Beginn der Ferien wieder anmelden.
Das Leben wird unerträglich. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 setzen auch in Lorsch die Plünderungen und Brandstiftungen ein. Die Synagoge wird zerstört, die schönen Buntsandsteinquader behält man – und baut nach dem Krieg eine Friedhofskapelle damit.
Als sich der Rauchvorhang hebt, sind mindestens drei Menschen verschwunden: der 84 Jahre alte Abraham Abraham und sein Sohn Siegmund, sie kommen später aus Dachau wieder zurück. Aron Lorch aber bleibt für immer verschollen. ‚9.11.38 verzogen nach Frankfurt‘ steht im Melderegister. Eine Chiffre für die Verschleppung ins Gestapogefängnis. Oder soll man glauben, dass ein Siebenundsechzigjähriger seine sechs Jahre jüngeren Frau zurücklässt, ausgerechnet in der Pogromnacht einfach so ‚verzieht‘ und nicht die kleinste Spur hinterlässt?
Alfred Lorch, seine Frau Franziska (Fränzi) und die Kinder ziehen in Arons Wohnung, zur Tante Bertha, in die Bahnhofstraße 13. Ihr eigenes Anwesen mit der Holzhandlung in der Nummer 17 würden sie verkaufen und dann auswandern. Das Ziel: Chile. Auch Schwester Paula und Schwager Karl, dem mutigen Viehhändler, war in Babenhausen schwer zugesetzt worden. Zwei Wochen nach den Pogromen stellen sie Antrag auf Ausreise nach Südafrika. Sie sind spät dran, aber Paula ist schwanger geworden. Ihr fünftes Kind stirbt nach der Geburt.
Ihr Eigentum wird unter Preis verkauft. Im Juni 1939 endlich geben die Behörden das Einverständnis. Doch dann kommt der Krieg, und kein deutsches Schiff fährt mehr nach Südafrika. Die Kahns bekommen ihre gepackten Überseekisten aus Bremen zurück, das Landratsamt behält die Pässe. Den Verwandten in Lorsch ergeht es ähnlich. Franziska ist auch noch einmal schwanger geworden und bringt am 21. Januar 1940 ein Mädchen zur Welt. Elia Lorch ist der letzte jüdische Mensch, der in Lorsch geboren wird.
Die Geschwister Alfred und Paula sitzen mit ihren Familien in der Falle. Das zweite Opfer aus dem Familienverband wird Ruth Kahn. Die Studentin hat sich 1939 aus Babenhausen abgemeldet; sie gerät im Oktober 1940 in eine von Eichmann persönlich koordinierte Aktion der Zwangsverschleppung von Juden aus Baden in das Lager Gurs in Frankreich, am Rande der Pyrenäen. Nach zwei Jahren der Agonie wird die Neunzehnjährige im September 1942 von dort nach Auschwitz deportiert. Da ist ihre Familie bereits tot.
Am 21. August 1941 weist der Bergsträßer Landrat die Bürgermeister im Kreis an, die ‚umzusiedelnden Juden zunächst zur Räumung ihrer bisherigen Wohnungen zu veranlassen.‘ Ein konkreter Hinweis auf die bevorstehenden Deportationen. Spätestens jetzt weiß man auch in der Provinz Bescheid. Neben der Familie Lorch, den drei Kindern und Tante Bertha leben noch elf Juden in Lorsch. Sie müssen nun den Judenstern tragen, wenn sie überhaupt aus dem Haus dürfen. Der Briefträger versorgt sie heimlich mit Lebensmitteln.
Mit weißer Farbe pinseln die Juden ihre Namen, ihre Kennnummern und ihre Deportationsorte auf die Gepäckstücke, die sie tragen können. Alles ist bis ins Kleinste organisiert, jeder Deportationszug, den Eichmann bei der Reichsbahn bestellt, fasst 1000 Personen. Der ‚Gesellschaftssonderzug‘ mit der Nummer DA 14 fährt nach Sonderfahrplan am 25. März 1942 ab Mainz über Darmstadt in den Bezirk Lublin im sogenannten Generalgouvernement (Polen). Hier ist das Durchgangslager Piaski.
Aus diesem ländlichen Getto werden zur gleichen Zeit die polnischen Bewohner in die Vernichtung nach Belzec und Majdanek getrieben, um Platz zu machen für die ‚Reichsjuden‘. Einige glauben immer noch an Pionierarbeit im Osten und schleppen ihr Werkzeug mit. Die Lorchs aus Lorsch treffen die Kahns aus Babenhausen im Zug wieder.
Am 27. März kommen die Familien Kahn und Lorch und vier weitere Lorscher Juden in Lublin an. Wie lange sie möglicherweise in Gettos oder Arbeitslagern noch leben, ist nicht bekannt. Post aus Piaski darf in Hessen nicht zugestellt werden.
Das Ende kommt dann meistens in den Vernichtungsanstalten der Region, in Belzec oder Majdanek. Bis heute weiß man es nur vom 15 Jahre alten Martin Lorch. Eine Todesmeldung nennt den 4. August 1942 und Majdanek. In Lorsch zurückgeblieben sind nun noch sieben Menschen, für die ein ‚Alterstransport‘ nach Theresienstadt vorgesehen ist. Am 27. September 1942 sind auch sie verschwunden – mit dem letzten großen Transport aus Südhessen, DA 520, wieder aus Mainz und Darmstadt.
Weil er in Mischehe lebt und kleine Kinder hat, war der Jude Siegbert Mann ausdrücklich von Eichmanns Deportationsbefehl ausgenommen. Doch auch er verschwindet an einem unbekannten Tag aus Lorsch. Von Mann gibt es nicht einmal den ‚verzogen‘-Vermerk. Alles, was seine Frau später erhält, ist die Todesmeldung. Siegbert Manns Witwe dient in einem der Nürnberger Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher ausgerechnet der Verteidigung von Heinz Jost. Für das falsche Bild vom guten Nazi muss noch einmal die Geschichte mit Siegbert Mann herhalten, den Jost 1933 kurz hatte laufen lassen.“