Ein Artikel des Starkenburger Echos vom 21.07.2015 von Christian Knatz
LORSCH – Die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Lorsch wird seit einigen Jahren gründlich untersucht. Am Rande gehört dazu eine Bluttat vor fast 200 Jahren.
Am 15. März 1831 “abends auf acht Uhr” ermordete ein gewisser Joseph Bogner in einem Haus am heutigen Kaiser-Wilhelm-Platz drei Mitglieder einer jüdischen Familie. Zwei Weitere wurden schwer verletzt. Der Täter richtete sich noch am Tag des Verbrechens selbst.
So steht es im Kirchenbuch der katholischen Lorscher Pfarrgemeinde, das die Sterbeeinträge aus den Jahren 1825 bis 1839 dokumentiert.
Gefunden hat den von zwei Zeugen beglaubigten Eintrag von Pfarrer Johann Baptist Emil aus dem Jahr 1831 der ehrenamtliche Lorscher Stadtarchivar Winfried Dickes. Den Impuls zur Suche hat Thilo Figaj gegeben, Erforscher der Lorscher jüdischen Geschichte. Er war in den Unterlagen des früheren Lorschers Moritz Mainzer in den USA auf die Gräueltat aus der Vormärz-Zeit gestoßen, die in der Lorscher Geschichte einmalig ist. Dickes: “Einen solchen Mord hat es sonst auf keinen Fall gegeben.”
Katholiken kümmerten sich um Juden
Eine kleinere Sensation ist der Verwaltungsakt selbst. Denn der Pfarrer hätte von Amts wegen wohl nicht eine halbe Seite seines “Sterb-Protocolls” Mitgliedern der nicht einmal 100 Köpfe zählenden jüdischen Gemeinde widmen müssen. Sterbefälle, Geburten und Heiraten der eigenen Gemeinde trugen deren Leiter zusammen, ehe 1875 staatliche Standesämter die Statistiken führten.
Die jüdische Gemeinde führte ihre eigenen Akten, in denen der Dreifachmord ebenfalls vermerkt ist. Später notierte der Vorbeter Hirz ben Josel weil, was sich Schreckliches zugetragen hatte: Gleich drei Lorscher Juden seien “in jener Nacht auf seltsame und grausame Weise” umgebracht worden. Zum Mörder heißt es: “Möge er vernichtet werden.” Dass sich die Katholiken zumindest in einem solchen Fall um die jüdische Gemeinde scherten, scheint auf eine gute Tradition hinzuweisen: Noch bis 1936 – also kurz vor dem Ende des jüdischen Lebens in Lorsch – besorgte der katholische Kirchenrechner von Lorsch (gegen Entgelt) die Buchhaltung der jüdischen Gemeinde gleich mit. 30 Mark für die “Reinigung der Synagoge” sind zum Beispiel für das Jahr 1932 notiert.
Spektakulärer liest sich, was Pfarrer Emig 1831 vermerkt hat. Überschrieben ist der Abschnitt mit “Joseph Bogner Selbstmörder”; der Tod des katholischen Täters scheint also der wahre Beweggrund für den Eintrag gewesen zu sein. Dieser Joseph Bogner war ein in Lorsch stationierter, aus Hirschhorn stammender Landgendarm (also Soldat) des Darmstädter Großherzogs. Er brachte am Abend des 15. März “auf eine grausame Weise, ohne dass man noch die Ursachen angeben kann” drei Juden in einem Haus um, an dessen Stelle sich heute das Anwesen Kaiser-Wilhelm-Platz 10 befindet: “den hiesigen Schutzjuden Samuel Mainzer” (53), seine ein Jahr jüngere Ehefrau Eva (Figaj kommt über den Grabstein auf leicht differierende Altersangaben) sowie die 18 Jahre alte Tochter Esther.
Der 21 Jahre alte Sohn Samuel rettete sich mit einer klaffenden Kopfwunde, der 16 Jahre alte Sohn Herz überlebte, obwohl ihn Bogner in einen tiefen Brunnen geworfen hatte.
Bogner floh, kam aber nur bis zur Ziegelhütte am ehemaligen Landgraben-Bett östlich von Lorsch, “wo er sich mit seinem eigenen Gewehr erschoss und zugleich in den tiefen Landgraben stürzte”. Am Tag darauf wurde er gefunden und “in der Stille, ohne Gesang und Klang auf dem hiesigen Gottesacker neben der Mauer beerdigt”. Er war 31 Jahre alt.
Eine Frage bleibt offen: Warum?
So detailreich der Eintrag in dem ansonsten in aller behördlichen Kürze geführten Buch ist – eine entscheidende Angabe fehlt: Warum tat Joseph Bogner das? Figaj und Dixkes vermuten, er habe mit Samuel Mainzer privaten Streit gehabt. Wie alle Lorscher Juden war das Opfer als Händler tätig, sodass ein Streit um Geld und Schulden plausibel wäre. Das ist aber Spekulation, auch, ob Judenhass eine Rolle gespielt hat. Immerhin hat der jüdische Vorbeter notiert, dass sich Mainzer und sein Mörder kannten: Bogner sei bei dem Lorscher Juden ein- und ausgegangen.
Klar ist ferner, dass Samuel Mainzer sein Status als “Schutzjude” nicht geholfen hat. “Mit Sicherheit im Wortsinn hat das ohnehin nichts zu tun”, erklärt der Stadtarchivar. Eher ging es um Schutz nach Art der Mafia. Alle Juden, die nicht Ortsbürger waren, mussten sich den Status “Schutzjude” beim Landesherrn, dem Großherzog, erkaufen.
Auch wenn dieser Zweig der alteingesessenen Lorscher Familie Mainzer mit der Bluttat nahezu ausgelöscht wurde, blieb der Name erhalten. Erst in der vorvergangenen Woche besuchten 14 Angehörige der jüdischen Lorscher Familien Kahn und Mainzer Lorsch, den Ort, in dem ihre Ahnen lebten.