29.06.2015 – Stolperstein-Verlegungen für die Familien Kahn und Mainzer

Zahlreiche Familienangehörige kommen aus Amerika | Alle Lorscher sind herzlich eingeladen zur Verlegung am 9. Juli um 10 Uhr

150629 PM Stolpersteine Thilo Figaj
Eine vierzehnköpfige Gruppe mit Angehörigen der Lorscher jüdischen Familien Mainzer und Kahn, die heute in Kanada und den Vereinigten Staaten leben, kommt auf Einladung des Heimat- und Kulturvereins vom 8. bis 12. Juli nach Lorsch.

Anlass ist die erste Verlegung von Stolpersteinen in der Stadt, die vom Verein organisiert wird. Der Künstler Gunter Demnig wird insgesamt elf Stolpersteine an der Stelle des ehemaligen Hauses Schulstraße 18 und vor dem Haus Nibelungenstraße 56 / Ecke Kirchstraße verlegen. In ganz Europa gibt es bereits etwa 40.000 solcher Erinnerungssteine, die vor den letzten freiwillig gewählten Wohnstätten der während der NS-Zeit aus ihrer Heimat geflüchteten, oder verschleppten und ermordeten Juden im öffentlichen Raum verlegt wurden. Die Stolpersteine bilden in ihrer Gesamtheit das größte Flächendenkmal der Welt.
Der älteste Gast ist der pensionierte Herzspezialist Dr. Otto Kahn, der mit seiner Frau und Kindern die weiteste Anreise aus Kalifornien auf sich nimmt. Nach Erhalt der Einladung des Vereins und der Stadt Lorsch schrieb er: „Vor vielen Jahren habe ich meine alte Heimat noch einmal gesehen, als ich zu einem Kongress in Frankfurt war. Ich habe das Reisen mittlerweile lange aufgegeben. Meine Frau hat Flugangst. Ich sehe aber, dass dies eine sehr spezielle Gelegenheit ist und werde Ihre Einladung annehmen.“
Otto Kahn, geboren 1934 in Lorsch, ist der fünfte und jüngste von drei noch lebenden Söhnen des Ehepaares Karola Mainzer Kahn und Leopold Kahn. Ihr Heim war das prägnante Fachwerkhaus am heutigen ‚Cityring’, Nibelungenstraße 56. Nach dem Novemberpogrom 1938 mussten die Kinder erleben, wie ihr Vater Leopold nach Buchenwald verschleppt wurde. Wie dreißigtausend jüdischen Familienoberhäuptern auch wurde ihm und damit der ganzen Familie, unter Misshandlungen und Drohungen, die sofortige Ausreise abgepresst. Die Familie Mainzer hatte ihr Haus bis zur endlich gelungenen Flucht am 11. Juli 1939 über fünf Generationen bewohnt. Auch Ottos Großmutter Rosa, Frau des bereits 1918 verstorbenen Viehhändlers Berthold Mainzer, ging mit der Familie nach Kanada. Sie war damals 68 Jahre alt.
In letzter Minute war es der Familie gelungen, das Haus zu verkaufen und Visa für Kanada zu erlangen. Den größten Teil des Erlöses für das Haus raubte ihnen die nationalsozialistische Finanzverwaltung. Was noch übrig war wollte Rosa Mainzer treuhändisch für ihre zweite Tochter Gustine anlegen, für die sie keine Ausreisebewilligung erlangen konnte. Gustine wurde in der ‚Pflegeanstalt’ Heppenheim untergebracht. Von dort wurde sie am 4. Februar 1941 nach Hadamar verschleppt und noch am selben Tag in der ‚Aktion T4’ ermordet. Über ihr genaues Schicksal war die Familie bis 2014 im Unklaren.
Es sind insgesamt neun Stolpersteine die vor dem Haus Nibelungenstraße an das Schicksal der Familie erinnern werden. Das Haus, früher im Besitz des Schusters Angert, gehört heute Richard Heinz. Herr Heinz unterstützt den Verein nicht nur ideell, sondern ist auch einer von vielen Lorschern, die einen substantiellen Beitrag für das Stolpersteinprojekt in Lorsch leisten.
Der zweite Verlegeort mit zwei Stolpersteinen ist in der Schulstraße 18. Hier stand einmal das Wohn- und Geschäftshaus des Nathan Mainzer (1846-1914). Er war ein wohlhabender Geschäftsmann und der Onkel von Berthold und Rosa Mainzer aus der Nibelungenstrasse. In zweiter Ehe war Nathan mit Johanna, geborene Mayer verheiratet, die 1863 geboren war. Das Ehepaar entstammte also noch einer Generation vor der deutschen Reichsgründung von 1871.

Nach Nathans Tod 1914 bewohnte Johanna das Haus zusammen mit ihrer Wirtschafterin Regina Josef, geb. 1878. Regina war unverheiratet, sie stammte aus einer sehr alten, ehemals Wiener jüdischen Familie in Reichelsheim und war mit der Großfamilie Mainzer verwandt. Aus Briefen von Johanna Mainzer, die sie unmittelbar vor Kriegsbeginn im August 1938 an Karola Kahn schickte, die gerade in Kanada angekommen war, geht hervor, dass sie vergeblich versuchte ihr Haus zu verkaufen und auszureisen. Noch 1941, als es schier unmöglich geworden war aus Nazideutschland zu entkommen, stellte die damals 78jährige einen weiteren Ausreiseantrag.
Im September 1941 wurde sie mit Regina und den anderen noch in Lorsch verblieben Juden im Haus Karlstraße 1  festgesetzt. Dort erlebte sie im März 1942 die Deportation von Regina in ein Vernichtungslager im besetzten Polen. Sie selbst kam Ende September 1942 ins tschechische Lager Theresienstadt, wo sie 5 Monate später, am 5. März 1943 kurz vor ihrem 80. Geburtstag verstarb. Johanna Mainzer war die älteste deportierte Lorscherin.
Auch die zweite Ehe des Nathan Mainzer mit Johanna war kinderlos geblieben. Zur Verlegung ihres Stolpersteines kommen aus New York ihr Ur-Großneffe Ron Dressler und dessen Sohn Chris aus Arizona nach Lorsch. Ron ist auch der Enkel von Dr. Moritz Mainzer, einem bis zu seinem Tode infolge des Novemberpogroms 1938 in Frankfurt tätigen Lehrer und Rabbiner.
Die Verlegung der Steine erfolgt ab 10 Uhr. Der zentrale Veranstaltungsort ist die Jüdische Gedenkstätte an der Ecke Schulstrasse und Kirchstrasse, von der aus beide Verlegeorte nur jeweils ein paar Meter entfernt sind. Nach dem Verlesen der Biographien wird das jüdische Totengebet, Kaddisch, gesprochen. Musikalisch begleitet wird die Zeremonie von Dr. Christian Knatz als Klarinettensolist. Im direkten Anschluss ist den Familienmitgliedern Gelegenheit gegeben, das Haus Nibelungenstraße zu besuchen. Für 11.30 Uhr ist der offizielle Empfang der Stadt Lorsch für die Gäste aus Amerika im Nibelungensaal des Alten Rathauses angesetzt.
Bereits am Vorabend, 8. Juli (Mittwoch), lädt der Heimat- und Kulturverein zur Begrüßung, Empfang und Vortrag um 19 Uhr in den Paul-Schnitzer-Saal. Alle Lorscherinnen und Lorscher sowie interessierte Gäste sind herzlich eingeladen. Der Empfang steht unter dem Motto des gegenseitigen Kennenlernens, auf gut Amerikanisch ‚Meet and Greet’. Thilo Figaj wird in einem etwa einstündigem Vortrag „The Jews of Lorsch“ (deutsch / englisch) die Geschichte der hiesigen Jüdischen Gemeinde skizzieren.
Auch der Rest der Woche ist mit Programm gefüllt. Nach dem Rathausempfang am Donnerstag geht es nach mit dem Bus zu einer englischen Führung durch das Jüdische Worms. Am Freitag (10. Juli) wird zuerst der Jüdische Friedhof in Alsbach besucht, anschließend geht es nach Osthofen zum ehemaligen Konzentrationslager, und nachmittags noch einmal zurück nach Worms zum 1.000-jährigen Friedhof „Heiliger Sand“.
Interessierte Lorscher, die an der von Pfarrer Johannes Mingo (Bickenbach) und Thilo Figaj organisierten Führung auf dem Alsbacher Friedhof teilnehmen möchten, sind bei eigener Anreise herzlich eingeladen. Die Gruppe fährt gegen 9.30 Uhr vom Hotel Jäger ab. Dort sollte man sich verabreden. Treffpunkt wäre dann gegen 10 Uhr am Lidl Parkplatz, Alsbach, an der B3, von wo aus man den heutigen Eingang zum Friedhof nach etwa ca. 200 m durch einen kleinen Waldstreifen erreichen kann.
Ein letzter Höhepunkt ist am Samstag (11.). Um zehn Uhr findet auf Einladung des Auerbacher Synagogen Vereins ein Sabbat Gottesdienst in der Auerbacher Synagoge, Bachgasse statt. Unter unseren Lorscher Gästen sind zwei Rabbiner, Lawrence Troster und seine Tochter Rachel Kahn-Troster, die diesen Gottesdienst organisieren und ein Programm mit Texten und Liedern vorbereitet haben, das in der Synagoge in Kopien ausliegen wird. Alle Interessierten und Menschen jeden Glaubens sind herzlich willkommen und zu dieser außergewöhnlichen Gelegenheit eingeladen. Bei allen Besuchen von Synagogen und Friedhöfen sei daran erinnert, dass Männer eine Kopfbedeckung tragen.
Der Heimat- und Kulturverein hofft sehr auf regen Zuspruch aus der Bevölkerung bei allen öffentlichen Veranstaltungen. Die Erwartungen unserer Gäste die, wie Dr. Otto Kahn selbst aus Lorsch stammen, oder deren Eltern und Großeltern hier ihre tiefen Wurzeln hatten, sind gespannt positiv. Die jüngste Besucherin ist 8 Jahre alt. Sie und einige andere kommen das erste Mal nach Deutschland, sie alle aber kennen unseren Ort aus den vielen Erzählungen ihrer Vorfahren und identifizieren damit Lorsch auch ein wenig als “ihren“ Ort. Der direkte Anlass steht natürlich untrennbar im Zusammenhang mit Unrecht und Shoa, doch hat es sich der Verein zum Ziel gesetzt, den Besuch bei uns zu einem Fest der Begegnung und des Dialoges und der Freundschaft werden zu lassen. Lorscher treffen Lorscher.
Wir danken bereits heute allen Spendern, ohne die es nicht möglich wäre die Veranstaltung in diesem Rahmen zu organisieren und alle Einladungen in der Form wie es geschehen ist auszusprechen. Damit beweisen die Lorscherinnen und Lorscher, dass ihnen die verantwortliche Befassung mit deutscher, vor allem aber mit unserer Ortsgeschichte wichtig ist. Weitere Spenden sind immer noch willkommen.
Spendenkonten Heimat- und Kulturverein Lorsch,  Stichwort Stolperstein
Sparkasse Bensheim IBAN DE46 5095 0068 0002 0010 06, BIC HELADEF1BEN;
Volksbank Darmstadt-Südhessen IBAN DE72 5089 0000 0040 0050 05, BIC GENODEF1VBD.
Kontakt: Thilo Figaj 177318 (tagsüber) oder 55968
Bildtext: Aufnahme 1937 in Lorsch | v.l. oben: Ernst (1925) und Berthold Kahn (1928), unten: Fritz (1929), Otto (1934) und Heinz Kahn (1931)
Text und Bild: Heimat- und Kulturverein Lorsch