Zigarrenfabriken als Keimzelle gewerkschaftlicher Bewegung und Sozialdemokratie – eine Episode aus Lorsch.
Vortrag am 19. April 2024, 18 Uhr, Paul-Schnitzer-Saal Lorsch
1875 kam ein gerade einmal 18-jähriger junger Mann aus Brandenburg an der Havel nach Lorsch. Otto Sidow hatte in seiner Heimat das Handwerk des Zigarrenmachers erlernt. Er wollte in der Fremde seine Kenntnisse vertiefen. Vor allem aber galt das Großherzogtum Hessen-Darmstadt damals als wesentlich liberaler als das konservative Preußen und war deshalb attraktiv für junge Menschen aus der Arbeiterschicht, vor allem, wenn sie wie Sidow politisch interessiert waren. Er war, wie uns sein Biograf berichtet, ein sogenannter Vorleser.
Wir kennen Vorleser aus der kubanischen Zigarrenindustrie. Tatsächlich war dieser Brauch, bei dem die Zigarrenarbeiterinnen und -arbeiter ihren Stücklohn mit einem Vorleser aus ihren Reihen teilen, um den langen Arbeitstag von 12 Stunden und mehr erträglicher zu gestalten, in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Karibik nach Deutschland gekommen.
Bald wurde hier außer aus Büchern auch aus Zeitungen vorgelesen, vor allem politische Artikel. So wurde das Vorlesen in der Zigarrenindustrie zu einem Betätigungsfeld politischer Akteure, aus dem die ersten Arbeitervereine und später Gewerkschaften und politische Parteien hervorgingen.
Otto Sidow war ein Jahr in Lorsch, bis 1876. Als er 1900 wieder zu Besuch kam, erinnerte man sich hier noch gut an ihn. In einem Vierteljahrhundert war viel passiert. Die Soziallisten hatten sich zu einer politischen Partei zusammengefunden, die unter Bismarck lange verboten war. Als 1890 die SPD neu gegründet wurde, war Otto Sidow dabei. Er war mittlerweile zum Zeitungsverleger in Brandenburg avanciert. Nach dem Ersten Weltkrieg, auf dem Höhepunkt seines politischen Wirkens, wurde er für seine Partei in die Nationalversammlung gewählt.
Thilo Figaj erzählt von der Karriere eines Mannes, die als Zigarrenmacher und politischer Agitator in Lorsch begann, zu dessen Weggenossinnen und -genossen Rosa Luxemburg, Philipp Scheidemann und Friedrich Ebert gehörten und der als Ehrenbürger seiner Stadt
Brandenburg schließlich im ersten Reichstag der Weimarer Republik saß.
Vortragsdauer ca. 1,5 Std.
Einlass: 30 Minuten vor Beginn
Die Veranstaltung ist kostenfrei, um eine Spende zugunsten des Heimat- und Kulturvereins Lorsch e.V. wird jedoch gebeten.
Bild: Dankwart Sidow / Heimat- und Kulturverein Lorsch e.V.