Vortrag – Sprache der Landjudenschaft

Thilo Figaj. Heimat- und Kulturverein Lorsch

08. Dezember 2023, 18 Uhr – Altes Schulhaus in Lorsch (neben Giebauer Haus)

“Landjuden und dörfliche Gemeinschaft – Zusammenleben, Arbeitsteilung, Sprache”

Dreihundert Jahre waren Landjuden ein lebendiger Teil bäuerlicher Gesellschaften, vor allem in Süddeutschland. In ihrer soziokulturellen Struktur unterschieden sie sich deutlich von den durch jahrhundertelange Gettoerfahrungen geprägten städtischen Judengemeinden — obwohl sie aus ihnen hervorgegangen waren. Zunächst noch beschränkt durch die Zwänge absolutistischer Herrschaft entwickelten sie ab dem 18. Jahrhundert mit ihren christlichen Nachbarn ein arbeitsteiliges Miteinander und erfolgreiches System dörflicher Gemeinschaft: hier die Bauern und Viehhalter, dort der Land– und Viehhandel. Mit dem Holocaust ist die Landjudenschaft für immer untergegangen. Erhalten geblieben sind Teile ihrer Sprache. Viele jüdische Ausdrücke sind bekanntlich im Deutschen identifizierbar. Ihren bedeutendsten Niederschlag aber haben sie in den regionalen süddeutschen Dialekten gefunden und sind zum Teil bis in unsere Zeit in ihnen lebendig, ohne dass ihr Ursprung heutigen Generationen noch bekannt ist. Thilo Figaj vom Heimat- und Kulturverein Lorsch hat sie gesucht und stellt in seinem Vortrag eine Auswahl vor.

Dauer: ca. 1 Stunde

 

Die Teilnehmerzahl ist aufgrund der Raumverhältnisse in der Dokumentationsstätte auf 12 Personen beschränkt. Bei größerem Interesse wird der Vortrag zeitnah wiederholt.

Bitte melden Sie sich ausschließlich per E-Mail an, Sie erhalten von uns eine Bestätigung Ihrer Anmeldung: t.figaj@kulturverein-lorsch.de

 

Verlegung von Stolpersteinen für die Familie Lichtenstein

Verlegung von Stolpersteinen in der Lindenstraße und in der Kirchstraße am 9. November 2023 für die Familie Lichtenstein

Familienbild, Foto Marc Kaman: Die Aufnahme entstand im Frühjahr 1936 in Lorsch in der Wohnung Lichtenstein, Lindenstraße 8. In der hinteren Reihe stehen Jakob Lichtenstein (links) und Erna Rohrheimer sowie eine unbekannte Person. Sitzend abgebildet sind Jakob Lichtensteins Schwiegervater Loeb Rosenthal (1852) aus Beerfelden mit Berta Helga, und Melita Lichtenstein mit Eva Ellen.

Zur Geschichte der Familie Lichtenstein in Lorsch

Betty Lichtenstein, Schwester von Hermann Lorch, geb. 29.11.1875 in Lorsch heiratete 1898 in Lorsch den Mehl- und Fruchthändler Baruch Lichtenstein und zog mit ihm in dessen Heimatort Groß-Umstadt. 1930 wurde das Paar geschieden. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, Jenny (1899) und Jakob (1902). Baruch Lichtenstein verstarb 1932 und ist in Groß-Umstadt begraben.

Betty wohnte seit ihrer Scheidung wieder in Lorsch, zunächst in der Rheinstraße, dann in der Schulstraße 18 bei Johanna Mainzer und zuletzt zwangsweise in der Kirchstraße 5, dem jüdischen Gemeindehaus.

Ihre Tochter Jenny Lichtenstein kam am 4.9.1940 aus Groß-Umstadt, in dem sie nach dem Tod des Vaters 1932 gelebt hatte. Die ledige Frau zog zu ihrer Mutter in die Krchstraße 5. In die Wohnung der jüdischen Gemeinde wurden einige Lorscher Juden eingewiesen, die ihre eigenen Häuser verloren hatten.

Jenny Lichtenstein wurde im März 1942 von ihrer Mutter getrennt und nach Piaski bei Lublin deportiert. Von ihr fehlt jede Spur. Betty kam im September 1942 in das so genannte Altersgetto nach Theresienstadt. Hier musste sie 1943 den Tod ihrer Schwester Hanna Marx, geb. Lorch, bezeugen, die mit ihrem Mann in Beerfelden gelebt hatte. Am 16. Mai 1944 wurde Betty Lichtenstein mit dem Transport EA 376 nach Auschwitz verbracht und dort ermordet.

Ihrem Sohn Jakob und seiner Familie gelang 1939 die Flucht nach New York. Jakob war mit der vier Jahre älteren Melita, geborene Rosenthal (1898) aus Beerfelden verheiratet. Das Paar zog nach der Geburt einer ersten Tochter (Berta Helga, 1934) nach Lorsch, wo das zweite Kind (Eva Ellen, 1936) zur Welt kam. Die Familie wohnte in der Lindenstraße 8 zur Miete. Jakob Lichtenstein war Vertreter für Musikinstrumente und arbeitete für die bekannte Firma Hohner.

Während der Novemberpogrome 1938 wurde er, wie alle anderen männlichen Juden auch, in ein Konzentrationslager verschleppt. Er war vom 12. November bis 16. Dezember in Buchenwald. Nachdem er unterschrieben hatte, dass er mit seiner Familie auswandern würde, wurde er entlassen. Tragischerweise verstarb Jakob Lichtenstein bereits 1946 in seiner Wahlheimat Amerika.

Berta Helga Kawesch lebte noch 2022 auf Long Island (New York). Auf eine Kontaktaufnahme hat sie nie reagiert. Ihre Schwester Eva Ellen Reinach besuchte Lorsch im Jahre 1981. Sie war Angestellte einer Regierungsbehörde in Washington und lebt seit ihrer Pensionierung in Maryland. Sie war sehr bewegt, als im Zuge der Stolpersteinverlegung für Erna Rohrheimer (2021, Rheinstraße 4) ein Foto ihrer Familie auftauchte, das auch sie als Baby zeigt. Erna Rohrheimer war die Cousine ihrer Mutter, von deren Existenz sie nichts wusste. Ernas Enkel hatte das Foto zur Identifizierung der Personen 2021 mit nach Lorsch gebracht. Bis auf seine Großmutter kannte er die anderen Personen auch nicht.

Die vier Stolpersteine für die Familie Jakob Lichtenstein werden in der Lindenstraße 8 um 17 Uhr verlegt. Anschließend begeben sich die Teilnehmer an der Veranstaltung auf einen Spaziergang durch die Bahnhofstraße zum Verlegeort in der Kirchstraße 5, für Betty und Jenny Lichtenstein. Der Abschluss der Veranstaltung ist wie gewohnt um 18 Uhr an der jüdischen Gedenkstätte in der Schulstraße.

Mit den Steinen für die Familie Lichtenstein finden die Stolpersteinverlegungen einen vorläufigen Abschluss. Die insgesamt 55 Steine sind repräsentativ für die erloschene Lorscher jüdische Gemeinde. Sie stehen allerdings nur für ihre Mitglieder, die zur Zeit des Nationalsozialismus in Lorsch wohnten, von hier flohen oder von hier deportiert wurden. Eine ebenso große Zahl Lorscher Juden, also Menschen die vor allem hier geboren wurden, oder lange hier lebten oder nach Lorsch heirateten, wurde von anderen Orten vertrieben oder deportiert, aus dem Inland oder aus den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten. Für einige gibt es an diesen Orten Stolpersteine, für viele aber noch nicht. Es ist also durchaus möglich, dass es in Zukunft noch zusätzliche Stolpersteine in Lorsch geben wird, wenn es für Lorscher Juden aus diesem Personenkreis anderen Orts keine entsprechenden Initiativen gibt.

 

Thilo Figaj, 1. Vorsitzender

Betty Lichtenstein, Kennkarte, Stadtarchiv Lorsch
Jenny Lichtenstein, Kennkarte, HKV

Vortrag – Sprache der Landjudenschaft

Thilo Figaj. Heimat- und Kulturverein Lorsch

12. Juli 2023, 19 Uhr – Auerbacher Synagoge

“Landjuden und dörfliche Gemeinschaft – Zusammenleben, Arbeitsteilung, Sprache”

Dreihundert Jahre waren Landjuden ein lebendiger Teil bäuerlicher Gesellschaften, vor allem in Süddeutschland. In ihrer soziokulturellen Struktur unterschieden sie sich deutlich von den durch jahrhundertelange Gettoerfahrungen geprägten städtischen Judengemeinden — obwohl sie aus ihnen hervorgegangen waren. Zunächst noch beschränkt durch die Zwänge absolutistischer Herrschaft entwickelten sie ab dem 18. Jahrhundert mit ihren christlichen Nachbarn ein arbeitsteiliges Miteinander und erfolgreiches System dörflicher Gemeinschaft: hier die Bauern und Viehhalter, dort der Land– und Viehhandel. Mit dem Holocaust ist die Landjudenschaft für immer untergegangen. Erhalten geblieben sind Teile ihrer Sprache. Viele jüdische Ausdrücke sind bekanntlich im Deutschen identifizierbar. Ihren bedeutendsten Niederschlag aber haben sie in den regionalen süddeutschen Dialekten gefunden und sind zum Teil bis in unsere Zeit in ihnen lebendig, ohne dass ihr Ursprung heutigen Generationen noch bekannt ist. Thilo Figaj vom Heimat- und Kulturverein Lorsch hat sie gesucht und stellt in seinem Vortrag eine Auswahl vor.

18.08.2021 – Sechste Stolpersteinverlegung in Lorsch am 7. September 2021

Schuhlöffel Abraham Lorch (Foto: Bildarchiv HKV)

Dienstag, 7. September 2021
um 16 Uhr

Rheinstr. 4
anschl. Stiftstr. 26

In diesem Jahr werden wieder unter der Federführung des Heimat- und Kulturvereins an zwei Stellen in der Stadt Stolpersteine für ehemalige jüdische Nachbarn verlegt. Der erste Ort ist die Rheinstraße 4, das ehemalige Wohn- und Geschäftshaus der Familie Eduard Rohrheimer (1880-1949). Die Familie Rohrheimer ist die Familie mit der längsten jüdischen Siedlungskontinuität in Lorsch. Eduard Rohrheimers Tochter Erna (1912 – 1995) war in neunter Generation das letzte am Ort geborene Mitglied. Sie war eine waschechte Lorscherin, auch ihre Mutter Jenny stammte aus einer alteingesessenen Familie. Jenny Rohrheimer, geborene Lorch (1883 – 1937) war die Schwester des bekannten Kaufmanns Hermann Lorch. Tragischerweise verstarb sie früh, und so waren Vater und Tochter während der harten Zeit des nationalsozialistischen Boykotts auf sich allein gestellt. Eduard Rohrheimer hatte im November 1927 in der Rheinstraße zusätzlich zu seinem traditionellen Handel mit Vieh und Landesprodukten für Erna ein Geschäft mit Trikotagen und Wollwaren eröffnet, in dem sie nach ihrem Schulabschluss Ostern 1928 arbeitete. Ältere Lorscherinnen erinnerten sich noch vor einigen Jahren an dieses Geschäft und erzählten, dass Erna für die Stammkundschaft gerne auch sonntags aufsperrte, nach der Messe. Jede Gelegenheit zum Überleben musste genutzt werden.

Erna war von ihren Eltern auf die Höhere Töchterschule nach Bensheim geschickt worden, die damals noch nach der 10. Klasse endete. Ihre Spuren dort haben nun Schülerinnen und Schüler des Goethe Gymnasiums aufgenommen und ihr Schicksal recherchiert. Das Gymnasium, das aus dieser Schule hervorgegangen ist, feiert 2021/22 sein 150. Jubiläum. Als zentrales Projekt plant die Schule die Verlegung von Stolpersteinen für ehemalige jüdische Schülerinnen und deren Familien. Es gelang, einen Enkel von Erna Rohrheimer in den USA ausfindig zu machen und nun zur Verlegung der Stolpersteine nach Lorsch einzuladen. Die Schulgemeinde finanziert das Projekt mit Patenschaften selbst.

Erna und ihr Vater flohen 1938, noch vor dem Pogrom, und fanden eine neue Heimat in Philadelphia. Ihr Erstkontakt in den USA waren die Nachfahren von Moses Rohrheimer, der 1866 von Lorsch ausgewandert war. Erna heiratete 1940 den aus Frankfurt stammenden Kurt Meyer. Ihr Mann diente in der US-Armee, und das von der Familie überlassene Foto der beiden stammt aus der Kriegszeit. 1945 kam ihre Tochter Irene Jeanne zur Welt. Eduard Rohrheimer wohnte in der Nähe seiner Tochter und arbeitete noch ein paar Jahre bei einer Holzhandlung am Hafen von Philadelphia. Nach seinem Tod 1949 betrieb Erna als einzige Nachfahrin das Entschädigungsverfahren in Deutschland.

 

Erna Elise Rohrheimer Meyer (1912-1995) und Kurt Meyer (1913-1987) (Foto: Familie)

Ein Onkel von Ena war also Hermann Lorch, für dessen nach Baltimore geflüchtete Familie seit 2019 Stolpersteine in der Bahnhofstraße 8 liegen. Für einen weiteren ihrer Onkel, Hermanns jüngeren Bruder Abraham Lorch (1887) und dessen Frau Sofie, geb. Lehmann (1877) werden nun zwei Stolpersteine in der Stiftstraße 26 verlegt. Abraham Lorch war Schuhmacher und -händler. Sein Wohn- und Geschäftshaus war das Stammhaus der Großfamilie Lorch, die seit 1820 am Ort wohnte. Leider ist außer der Erinnerung an das Schuhgeschäft nicht mehr viel bekannt über seine Familie. Nach der Bedrängnis durch die Nationalsozialisten, dem Ruin ihres Geschäftes und Verkauf ihres Hauses – was sich aus Dokumenten detailliert ablesen lässt – flüchteten Abraham und Sofie Lorch nach Palästina. Es gibt in den Akten der NS Finanzbehörde den Hinweis auf eine Tochter, der sie offenbar nach Palästina folgten – leider ohne Namensnennung. Nachweise zu Kindern der beiden fehlen in Lorsch und in Lengfeld (Gemeinde Otzberg), von wo Sofie stammte und wo die beiden 1906 geheiratet hatten. Auch eine Suche in den Einbürgerungsakten in Israel führte bis heute zu keinem Erfolg. Und so bleibt ein alter Schuhlöffel, ein Werbegeschenk des Schuhhändlers Abraham Lorch, der einzig greifbare Hinweis auf die Existenz dieser Familie in Lorsch.

Die Verlegungen sind terminiert auf 16 Uhr, am Dienstag, den 7. September 2021. Beginn ist in der Rheinstraße 4, anschließend werden die Steine in der Stiftstraße 26 verlegt. Die an diesem Tag geltenden behördlichen Corona Regeln sind zu beachten.

Stolpersteine Oppenheimer verlegt


42 Personen waren anwesend, als am Sonntag, den 25. Oktober 2020, morgens um 9 Uhr von Gunter Demnig die sieben Stolpersteine für die Familie Oppenheimer vor deren ehemaliger Adresse in der Karlstraße 1 in Lorsch verlegt wurden. Die genaue Zahl der Anwesenden ist deshalb verbürgt, weil sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der kurzen Zeremonie registrieren ließen, um den geltenden Gesundheitsvorschriften Rechnung zu tragen. Und so kommt es, dass diese Zahl 42 symbolisch für das Schreckensjahr 1942 wird, in dem die älteren Familienmitglieder Oppenheimer deportiert wurden: Bertha im Frühjahr in das besetzte Polen, ihre Geschwister Hannchen und Leopold und ihre Schwägerin Antonie im Herbst nach Theresienstadt. Eine Überlebenschance hatte niemand von ihnen. Viele Jahre versuchten die nach Amerika geflüchteten Söhne vergeblich, über das Rote Kreuz Auskunft zum Schicksal ihrer Eltern zu bekommen. Letzte Gewissheit zu ihrem Schicksal erhielten sie erst einige Zeit nach Kriegsende. Die Stolpersteine für die Oppenheimers sind die Nummern 39 bis 45 in Lorsch für unsere ehemaligen jüdischen Nachbarn. Mindestens zehn weitere Steine werden noch folgen.

Fotos: Figaj

15.10.2020 – Stolpersteine für die Familie Oppenheimer in der Karlstraße 1

Haus Karlstraße 1. Architekt Dexler

Sonntag, 25. Oktober 2020

um 9 Uhr

Karlstraße 1 / Ecke Landgrabenstraße

Am Sonntag, den 25. Oktober 2020 um 9 Uhr morgens werden vom Künstler Gunter Demnig zum fünften Male Stolpersteine in Lorsch verlegt. Diesmal sind es sieben Steine an nur einer einzigen Stelle, in der Karlstraße 1, Ecke Landgrabenstraße.

Das Haus ist für die Geschichte der Lorscher Juden ein besonderer Ort. Er war vielen alten Lorschern noch lange nach der NS-Diktatur als „das Judenhaus“ in Erinnerung. Das lag daran, dass vor allem hier (neben dem Haus Kirchstraße 5), die letzten Lorscher Juden zusammengedrängt worden waren. Es handelte sich ausschließlich um ältere Leute. Neben dem Ehepaar Leopold (1873-1944) und Antonie Oppenheimer (1880-1944), denen das Haus gehörte, wohnte hier im September 1942 noch Leopolds ältere Schwester Hannchen (1871-1943). Zwangsweise einquartiert waren Mathilde Marx und ihre Schwester Lina Schnautzer, die aus der Bahnhofstraße 33 stammten. Für beide sind dort Stolpersteine im Oktober 2018 verlegt worden.

Bereits im März 1942 war Leopold Oppenheimers jüngere, ebenfalls unverheiratete Schwester Bertha (1877-1942) nach Piaski deportiert worden. Die drei Söhne Oppenheimers, Ernst (1913-1986), Richard (1914-1997) und Alfred (1917-2004) waren schon in den 1930er Jahren in die USA und nach Argentinien (Richard) geflüchtet. 

Am 27. September 1942 ging der letzte große Deportationszug aus Südhessen über Mainz und Darmstadt nach Theresienstadt. Den alten Leuten hatte man das Märchen vom umsorgten Altersruhesitz vorgelogen und ihnen damit die allerletzten Ersparnisse abgepresst. Auf der Abschrift der Gestapo Liste, die im Mainzer Stadtarchiv erhalten ist, finden sich die Namen der Lorscherinnen und Lorscher auf Seite 32, unter den Nummern 1262-1268. 

Bis zu ihrer Deportation, die wie üblich von der Gestapo in relativer Ruhe organisiert worden war, lebten die Leute über Jahre bereits in bitterer Armut. Das Einkaufen in Lorsch war für sie seit 1941 auf ein einziges Geschäft und eine einzige Abendstunde, ab 18 Uhr, reduziert worden. Zeitzeugen erinnerten sich, dass es dem Kolonialwarenhändler Schmitt in der Bahnhofstraße 12 auferlegt worden war, nur ganz beschränkte Lebensmittel an Juden auszugeben, so z.B. ausschließlich Schwarzbrot. Einige Lorscher halfen aus, indem sie illegal Lebensmittelpäckchen über das Hoftor des „Judenhauses“ warfen oder dem Briefträger heimlich Sachen mitgaben.

Der Handelsjude Leopold Oppenheimer war in Lorsch unter dem Übernamen „der Heringsjud‘“ bekannt. Wie er – oder bereits sein Vater – zu diesem Namen gekommen war, ist nicht mehr nachvollziehbar. Mit Heringen gehandelt hat Leopold nach Angaben von Zeitzeugen nicht. Er und seine Schwestern waren in Fränkisch-Crumbach geboren, sind aber alle in Lorsch aufgewachsen. Ihr Vater Isaak (1826-1896) stammte aus Lorsch. Er war 1879 zurückgekommen und hatte das Haus in der Karlstraße 1 gekauft. Isaaks ältester Sohn Zacharias besaß ein Haus in der Bahnhofstraße 75; Leopold übernahm die Karlstraße und ließ das Haus 1913 vom hiesigen Architekten Heinrich Dexler in dessen bekannten repräsentativen Stil umbauen. Seine Schwester Hannchen war mit einem eigenen Geschäft eingetragen. Während Leopold reisender Kaufmann war, der bis weit in den Odenwald Kundschaft hatte, belieferte Hannchen Oppenheimer die Lorscher Hausfrauen mit Schürzenstoffen. Was sich bescheiden anhört, war damals ein einträgliches Geschäft. Hannchen war bekannt und beliebt. Annoncen unter ihrem Namen erschienen in der Lorscher Zeitung. Über ihre jüngere Schwester Bertha wissen wir leider nicht viel. Sie ist vermutlich nicht lange nach ihrer Deportation im März 1942 in einem der Vernichtungslager im besetzten Polen, in Treblinka oder Sobibor ermordet worden.

Hannchen starb im Februar 1943 in Theresienstadt an Auszehrung und Mangel, wie die meisten alten Leute. Auch diese zynische und kaltblütige Vorgehensweise der Nationalsozialisten war vorsätzlicher Mord, gleichzusetzen mit allen anderen Mordmethoden in den Massenvernichtungslagern oder an den Schießgruben.

Leopold und seine Frau Antonie, die er Toni nannte, hielten ein Jahr länger aus. Aber der Tod von Leopold vor dem oder am 8. April 1944 in Theresienstadt war auch das Todesurteil für Toni. Allein und ohne Angehörige hatte sie keine Chance mehr im Lager. Am 16. Mai 1944 wurde sie nach Auschwitz deportiert und ist wahrscheinlich noch am Tag ihrer Ankunft dort ermordet worden. 

Das Haus Karlstraße 1 hatte sich bei seiner Deportation noch im Besitz von Leopold Oppenheimer befunden. Die zynische Gesetzgebung („Legalisierter Raub“) ermöglichte es der Reichsfinanzverwaltung durch „Ausbürgerung bei Grenzübertritt“ und damit automatischem Vermögensverfall das Haus zu übernehmen. Wie immer in solchen Fällen kam es auch in Lorsch zu Begehrlichkeiten. Der restliche Hausrat wurde im Hof versteigert, und insgesamt 4 Wohnungen an Lorscher Parteien vermietet. Das bis 1945 penibel geführte Rechnungsbuch des Heppenheimer Finanzbeamten gibt über diese Sachverhalte Auskunft.

Diese und andere Belege konnten in einem Restitutionsverfahren, dass der jüngste der drei nach Amerika geflüchteten Söhne, Alfred, in den 1950er Jahren stellvertretend führte, herangezogen werden. Ein besonderes Detail aus dem Oppenheimer Verfahren war dabei der eidesstattliche Bericht, dass seine Eltern (und damit vermutlich auch die anderen Lorscher Juden) 1939 zur Bezahlung des Abbruchs der Synagoge gezwungen worden waren, die die Gemeinde Lorsch, nachdem sie am 10. November 1938 durch Brand  vernichtet worden war, hatte niederlegen lassen. Rechnungen zu diesem Vorgang sind erhalten. 

Der älteste der drei Brüder, Ernst, war nach New York gegangen. Dort lebte er zunächst bei einer Tante. Ernst, der nie verheiratet war, hatte in Kleinhausen beim Schmiedemeister Rau gelernt. Im Jahre 1978 sprach er als Zuschauer der Steubenparade, an der damals der Einhäuser Musikzug teilnahm, zwei Begleiterinnen an, die er am Dialekt erkannt hatte und gab sich ihnen zu erkennen. Das ist das letzte, was wir von ihm wissen. 

Richard nannte sich nach einer abenteuerlichen Flucht über Paraguay nach Argentinien Ricardo. Von ihm ist etwas Schriftverkehr überliefert, denn er hielt Kontakt zur Familie seiner Mutter, deren überlebende Mitglieder in den Vereinigten Staaten leben. Seine Briefe sind zeitlebens voller Bitterkeit gegenüber Deutschland geblieben. 1935, vor seiner Flucht, hatte er wegen Beleidigung des Arbeitsdienstes im Gefängnis in Butzbach gesessen, nachdem ein NS-Mob ihn in Lorsch fast gelyncht hätte. Er heiratete spät, seine beiden Töchter und deren Kinder leben mit ihren Familien in Argentinien und Israel.

Alfred, der jüngste Sohn, war erst kurz vor dem Pogrom 1938 ebenfalls in die USA geflüchtet. Hier heiratete er 1943. Das Paar hatte eine Tochter, ihre Kinder leben in den USA. Die Namenslinie der Lorscher Oppenheimers ist mit Alfreds Tod im Jahre 2004 erloschen.  

Mit der Verlegung der sieben Stolpersteine in der Karlstraße 1 erhöht sich die Gesamtzahl der Lorscher Steine auf 45 an 12 Stellen in der Stadt. Es sind noch 3 weitere Verlegungen geplant, mit weiteren 10 Steinen an zwei Terminen in den nächsten beiden Jahren. Die Projektliste steht auf der Internetseite des Heimat- und Kulturvereins zum Herunterladen bereit.