Besuch aus Überwald

Jugendliche aus dem Überwald besuchen die Dokumentation Landjudenschaft

An zwei Terminen Ende September und Anfang Oktober waren in der Dokumentation Landjudenschaft des Heimat- und Kulturvereins Lorsch über dreißig junge Leute aus dem Überwald zu Gast. Die Konfirmanden nahmen an einem neuen Projekt des Evangelischen Dekanats Bergstraße teil, das Sabine Allmenröder, Referentin für Gesellschaftliche Verantwortung (Heppenheim) und ihre Kollegin, die Gemeindepädagogin Birgit Ruoff (Lindenfels) bereits Wochen zuvor in Lorsch ausgearbeitet hatten. Die Jugendlichen sollten im Rahmen ihres Konfirmandenunterrichts Grundlegendes zu Kultur und regionaler Geschichte der Juden kennenlernen. Für die meisten war es die erste Begegnung mit etwas jüdischem.

Begleitet wurden die jungen Mädchen und Jungen von den Pfarrerinnen und Pfarrern ihrer Heimatgemeinden, Jörg Michas (Siedelsbrunn, Kreidach, Abtsteinach), Martina Beyer (Wald-Michelbach, Schönmattenwag) und Stefan Ningel (Grasellenbach-Hammelbach).

Mit Hilfe von historischen und modernen Objekten zum Anfassen aus der „Museumskiste“ der Dokumentation, die solche Dinge wie eine Kippa, eine kleine Torarolle, besondere Leuchter, Trinkbecher, Mazzen zum Probieren und anderes enthält, ging es auf Erkundung der Ausstellung und die im Umfeld der Dokumentationsstätte verlegten Stolpersteine. Anschließend wurde ein Fragebogen ausgefüllt.

„Die Rückmeldungen der Jugendlichen beim Abschluss waren klasse,“ berichtet Sabine Allmenröder. Sie sollten z.B. den Satz vervollständigen „Ich hätte nicht gedacht, dass…“, und es kamen Sachen wie: „…hier früher mal so viele Juden gelebt haben.“, „Juden jedes Mal kurz beten, wenn sie das Haus verlassen (und die Mesusa berühren)“. Die Frage, warum sich jemand „so ein Andenken zimmert“ (gemeint war ein auf den 9.11.1938 datiertes Schnitzwerk mit Resten aus der Lorscher Synagoge), ist von vielen sehr differenziert beantwortet worden, „obwohl sie vorher noch nie etwas vom Novemberpogrom gehört hatten.“

Der Gang im Anschluss zu den Stolpersteinen in der Stadtmitte wäre bestimmt im Sinne des Künstlers Gunther Demnig gewesen. Schnell hatten die Kinder das Alter der Deportierten errechnet und erschreckt festgestellt, dass der Jüngste fünf Jahre alt war und dann schnell rausgekriegt, dass da vier Kinder, die Eltern und eine alte Dame (vielleicht die Großmutter) geholt wurden. Auch eine einprägsame Erkenntnis.

„Genau dafür haben wir diese Einrichtung geschaffen,“ sagt Thilo Figaj, Vorsitzender der Heimat- und Kulturvereins. „Die Zusammenarbeit mit dem Dekanat und die Akzeptanz durch die jungen Leute zeigt uns, dass der Aufbau unserer Dokumentationsstätte für alle Zielgruppen einen Einstieg in jüdisches Leben bietet. Wir wollen kein reiner Gedenkort sein, sondern für das gegenseitige Verständnis in unserer Gesellschaft einen niederschwelligen Einstieg in jüdische Kultur anbieten.“ Für die Zukunft wünscht sich der Verein noch mehr Zusammenarbeit mit Jugendgruppen und Schulen. „Unser Haus steht zur Verfügung.“   

Bilder: Sabine Allmenröder, Ev. Dekanat Bergstraße

 

Bronze, Silber und Gold

Jüdische Kult- und Zeremonialobjekte

Abb. Jüdischer Hochzeitsring, silber, St. Petersburg, 19. Jh.

Am Tag des Offenen Denkmals, am Sonntag, den 14. September 2025, von 11 bis 16 Uhr, lädt der Heimat- und Kulturverein Lorsch zu zwei Sonderschauen in das Alte Schulhaus in die Schulstraße 16 ein. Dort im 1. Stock des Hauses aus dem Jahr 1723 befindet sich die Dokumentation Landjudenschaft.

Neben Urkunden, Fotografien und Dokumenten aus der Region gibt es auch eine kleine Sammlung zur jüdischen Kultur. Von historischem Interesse sind die Relikte aus der 1938 zerstörten Synagoge. In der Führung wird an realen Beispielen erläutert, welche Bedeutung häusliche Kult- und synagogale Zeremonialgegenstände im Judentum früher hatten und oft auch heute noch haben. Vieles ist von hoher kunsthandwerklicher Qualität. Neben den Schabbat Lampen aus Messing oder Bronze werden Gegenstände aus Silber gezeigt, die den Festtagstisch schmückten oder in der Synagoge Verwendung fanden. Darunter ist ein seltener silberner jüdischer Hochzeitsring aus dem 19. Jahrhundert und ein vergoldeter Toraschild von 1920. Die Sonderschauen zu den Kult- und Zeremonialobjekten finden um 12 und 14 Uhr statt und dauern jeweils etwa 45 Minuten.

Alle Infos zur Dokumentation Landjudenschaft hier.

Sonderveranstaltung: Die Lorscher Opfer der Shoa

Sonderveranstaltung in der Dokumentation Landjudenschaft am Freitag, den 24.1.2025, 18:00 – 20:00 Uhr

Ruth Karola Kahn (1923-1942), Aufnahme 1939 (c) HKV Lorsch

Anlässlich des diesjährigen Holocaust Gedenktages (27. Januar) öffnet der Heimat- und Kulturverein am Freitag, den 24. Januar ab 18 Uhr seine Räume im Alten Schulhaus, Schulstraße 16, für eine Sonderveranstaltung. Behandelt werden die Schicksale deportierter Lorscher Juden in den Jahren 1940 bis 1943.

Die Lorscher jüdische Gemeinde war nie besonders groß, und nach der Machtergreifung sank die Zahl der hier ansässigen Juden durch Abwanderung rasch unter 50 Personen. Wer es in der kurzen Zeitspanne vom Pogrom im November 1938 bis zum Kriegsbeginn im September 1939 nicht mehr schaffte, ein Visum für ein freies Land zu erhalten, geriet fast zwangsläufig in die Deportationen ab 1940. Die Schicksalswege der Lorscher Opfer waren dabei äußerst unterschiedlich und somit nahezu repräsentativ für das deutsche Judentum. Ruth Kahn, geboren 1923, wurde 1940 von ihrer Famile getrennt und nach Frankreich verschleppt. Sie wurde später ebenso in Auschwitz ermordet, wie der noch 1943 in Lorsch wohnende Siegbert Mann. In dem dazwischen liegenden Zeitraum fanden die Kindertransporte und Fluchten ohne glücklichen Ausgang nach Frankreich oder Holland statt, die Ermordung kranker und eingeschränkter Personen in der Tötungsanstalt Hadamar, genannt Aktion T4, die Deportationen nach Lublin in Polen unter dem Tarnnamen Aktion Reinhard, und schließlich nach Tschechien, nach Theresienstadt. Von hier kam 1945 die einzige Lorscher KZ-Überlebende zurück und lebte, von der Öffentlichkeit unbemerkt einige Jahre im Lorsch der Nachkriegszeit, bevor sie nach Mannheim verzog. In der Veranstaltung werden Geschichten Lorscher Jüdinnen und Juden erzählt, die über die Dokumentation im Raum der Erinnerung im Alten Schulhaus hinausgehen. Der Eintritt ist frei.

„Stolperschwelle“ in der Bahnhofstraße am Ort der ehemaligen Lorscher Synagogen

Das Grundstück der jüdischen Gemeinde um 1885, Blickrichtung Norden. Links in der Kirchstraße 5 das Haus des Lehrers, in der Mitte das Badehaus und rechts die Synagoge in der Bahnhofstraße 10. © HKV Lorsch, Harry Niemann

Der Künstler Gunter Demnig (Alsfeld) verlegt am Donnerstag, den 12. September 2024 um 11 Uhr im Gehweg vor der Bahnhofstraße 10 eine sogenannte Stolperschwelle. Das ist eine Gedenktafel, die in Form und Aussehen an die bekannten Stolpersteine erinnert, allerdings bei gleicher Höhe um ein Vielfaches breiter ist. Damit ist genügend Platz gegeben an diesem Ort der Erinnerung mit einem Text den beiden Lorscher Synagogen zu gedenken, die hier einst standen.

Vor fast genau 300 Jahren, 1725, machte sich der damals neue Lorscher Pfarrer Johannes Nikolaus Steden einen Vermerk in sein Kirchenbuch. Von der „hiesigen Judenschaft“ seien „drei Gulden für das Synagogicum“ einzusammeln und nach Mainz abzuführen. Das ist unser ersten Nachweis einer organisierten jüdischen Gemeinde. In Lorsch versammelten sich seit jeher auch die Kleinhäuser Juden zum regelmäßigen Gottesdienst.

Ein Situationsplan aus dem 19. Jahrhundert für die damalige „Obergasse“ belegt den Standort der ersten Synagoge an genau der gleichen Stelle, wie der des Nachfolgebaus aus dem Jahr 1885. Etwa zeitgleich mit dem Toleranzedikt von 1784 des Mainzer Kurfürsten Friedrich Karl Joseph von Erthal, welches es Juden erlaubte, Häuser und Grundstücke zu erwerben, war das Haus Nr. 205 (Bahnhofstraße 10) im Besitz der jüdischen Familie Mainzer, die im Obergeschoss einen Betraum für die Gemeinde einrichtete.

Das Erdgeschoss wurde gewöhnlich an einen angestellten Lehrer und Kantor vermietet, die hier mit ihren Familien lebten. Einen Wechsel gab es alle paar Jahre. Dutzende Lehrerkinder wurden hier geboren, am bekanntesten ist vielleicht Hannchen Marx, geb. Isaak (1839-1910). Sie war die Großmutter der Marx-Brothers, das waren ganz frühe und weltberühmte Hollywood Stars der Stummfilmzeit.

Nicht so berühmt war Ernst Nathan, der als viertes Kind des Lehrers Emanuel Nathan 1871 hier geboren wurde. Er lebte später in Bruchsal und wurde 1942 in Auschwitz ermordet. Sein Name soll stellvertretend für alle Lorscher Jüdinnen und Juden genannt sein, für die hier oder anderenorts keine Stolpersteine verlegt sind. Auch zu ihrem Gedenken wird die Stolperschwelle verlegt.

Ab 1885 – mit der Errichtung der neuen Synagoge aus Stein – sind keine Geburten mehr im Haus Nr. 205 verzeichnet. Der Bauherr der Synagoge, Simon Lorch, der gleich nebenan sein Geschäft betrieb, hatte das Haus in der Kirchstraße 5 dazu erworben, welchen nun als Lehrerhaus diente. Zwischen diesem Haus und der neuen Steinsynagoge wurde ebenfalls neu eine, im Umkleideraum beheizbare, Grundwasser Mikwe für die Ritualbäder gebaut. Die Finanzierung des Neubaus war eine gewaltige Anstrengung für die Lorscher und Kleinhäuser Juden. Maßgeblich zum Erfolg trugen großzügige Spenden bei, so zum Beispiel aus der Familie des Ferdinand Oppenheimer. Der gebürtige Kleinhäuser Jude war in Strasbourg mit einer Lederfabrik zu einem beträchtlichem Vermögen gekommen.

Mit dem Ende des Kaiserreiches und dem verlorenen Krieg endete die Blütezeit der hiesigen Landjudenschaft. Viele hatten beträchtliche Summen in Kriegsanleihen investiert. Inflation und Wirtschaftskrisen folgten, die Nationalsozialisten raubten sich den Rest der jüdischen Vermögen, einschließlich ihrer Synagoge. Der Gemeinderat besiegelte mit dem Abbruch der Brandruine nach dem Pogrom das Ende der jüdischen Gemeinde in Lorsch.

Drei Lorscher Familien hatten in Folge der Übergriffe 1938 unmittelbar Tote in ihrer Mitte zu beklagen: Moritz Mainzer, der in der Schulstraße 12 geboren worden war, starb nach Misshandlung an einem Herzinfarkt in seiner Heimatstadt Frankfurt. Simon Lorch aus Dieburg, ein Schwiegersohn Abraham Abrahams aus der Kirchstraße 12, wurde in Buchenwald ermordet; die Familie erhielt nur noch ein Paket mit seiner Asche. Schließlich auch Aron Lorch aus der Bahnhofstraße 13, den man schon auf dem Weg nach Buchenwald gequält hatte, verstarb Wochen später ebenfalls im Frankfurter Rothschild Hospital. Ihre Namen sind mit den Tagen der Schändungen deutscher Synagogen verknüpft, und so soll auch für sie die Stolperschwelle in der Bahnhofstraße ein Denkzeichen der Erinnerung sein.

Nach der gemeinsam von der Stadt Lorsch und dem Heimat- und Kulturverein veranstalteten Verlegung der Stolperschwelle ist die Dokumentation Landjudenschaft im Alten Schulhaus bis etwa 14 Uhr geöffnet. Hier besteht die Gelegenheit, sich den Film mit der 3D-Rekonstruktion der Lorscher Synagoge anzuschauen. Aller Lorscherinnen und Lorscher und alle auswärtigen Gäste sind herzlich eingeladen.

Thilo Figaj,
Heimat- und Kulturverein Lorsch e.V., Vorsitzender

Vortrag – Sprache der Landjudenschaft

Thilo Figaj. Heimat- und Kulturverein Lorsch

08. Dezember 2023, 18 Uhr – Altes Schulhaus in Lorsch (neben Giebauer Haus)

„Landjuden und dörfliche Gemeinschaft – Zusammenleben, Arbeitsteilung, Sprache“

Dreihundert Jahre waren Landjuden ein lebendiger Teil bäuerlicher Gesellschaften, vor allem in Süddeutschland. In ihrer soziokulturellen Struktur unterschieden sie sich deutlich von den durch jahrhundertelange Gettoerfahrungen geprägten städtischen Judengemeinden — obwohl sie aus ihnen hervorgegangen waren. Zunächst noch beschränkt durch die Zwänge absolutistischer Herrschaft entwickelten sie ab dem 18. Jahrhundert mit ihren christlichen Nachbarn ein arbeitsteiliges Miteinander und erfolgreiches System dörflicher Gemeinschaft: hier die Bauern und Viehhalter, dort der Land– und Viehhandel. Mit dem Holocaust ist die Landjudenschaft für immer untergegangen. Erhalten geblieben sind Teile ihrer Sprache. Viele jüdische Ausdrücke sind bekanntlich im Deutschen identifizierbar. Ihren bedeutendsten Niederschlag aber haben sie in den regionalen süddeutschen Dialekten gefunden und sind zum Teil bis in unsere Zeit in ihnen lebendig, ohne dass ihr Ursprung heutigen Generationen noch bekannt ist. Thilo Figaj vom Heimat- und Kulturverein Lorsch hat sie gesucht und stellt in seinem Vortrag eine Auswahl vor.

Dauer: ca. 1 Stunde

 

Die Teilnehmerzahl ist aufgrund der Raumverhältnisse in der Dokumentationsstätte auf 12 Personen beschränkt. Bei größerem Interesse wird der Vortrag zeitnah wiederholt.

Bitte melden Sie sich ausschließlich per E-Mail an, Sie erhalten von uns eine Bestätigung Ihrer Anmeldung: t[dot]figaj[at]kulturverein-lorsch[dot]de

 

Verlegung von Stolpersteinen für die Familie Lichtenstein

Verlegung von Stolpersteinen in der Lindenstraße und in der Kirchstraße am 9. November 2023 für die Familie Lichtenstein

Familienbild, Foto Marc Kaman: Die Aufnahme entstand im Frühjahr 1936 in Lorsch in der Wohnung Lichtenstein, Lindenstraße 8. In der hinteren Reihe stehen Jakob Lichtenstein (links) und Erna Rohrheimer sowie eine unbekannte Person. Sitzend abgebildet sind Jakob Lichtensteins Schwiegervater Loeb Rosenthal (1852) aus Beerfelden mit Berta Helga, und Melita Lichtenstein mit Eva Ellen.

Zur Geschichte der Familie Lichtenstein in Lorsch

Betty Lichtenstein, Schwester von Hermann Lorch, geb. 29.11.1875 in Lorsch heiratete 1898 in Lorsch den Mehl- und Fruchthändler Baruch Lichtenstein und zog mit ihm in dessen Heimatort Groß-Umstadt. 1930 wurde das Paar geschieden. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, Jenny (1899) und Jakob (1902). Baruch Lichtenstein verstarb 1932 und ist in Groß-Umstadt begraben.

Betty wohnte seit ihrer Scheidung wieder in Lorsch, zunächst in der Rheinstraße, dann in der Schulstraße 18 bei Johanna Mainzer und zuletzt zwangsweise in der Kirchstraße 5, dem jüdischen Gemeindehaus.

Ihre Tochter Jenny Lichtenstein kam am 4.9.1940 aus Groß-Umstadt, in dem sie nach dem Tod des Vaters 1932 gelebt hatte. Die ledige Frau zog zu ihrer Mutter in die Krchstraße 5. In die Wohnung der jüdischen Gemeinde wurden einige Lorscher Juden eingewiesen, die ihre eigenen Häuser verloren hatten.

Jenny Lichtenstein wurde im März 1942 von ihrer Mutter getrennt und nach Piaski bei Lublin deportiert. Von ihr fehlt jede Spur. Betty kam im September 1942 in das so genannte Altersgetto nach Theresienstadt. Hier musste sie 1943 den Tod ihrer Schwester Hanna Marx, geb. Lorch, bezeugen, die mit ihrem Mann in Beerfelden gelebt hatte. Am 16. Mai 1944 wurde Betty Lichtenstein mit dem Transport EA 376 nach Auschwitz verbracht und dort ermordet.

Ihrem Sohn Jakob und seiner Familie gelang 1939 die Flucht nach New York. Jakob war mit der vier Jahre älteren Melita, geborene Rosenthal (1898) aus Beerfelden verheiratet. Das Paar zog nach der Geburt einer ersten Tochter (Berta Helga, 1934) nach Lorsch, wo das zweite Kind (Eva Ellen, 1936) zur Welt kam. Die Familie wohnte in der Lindenstraße 8 zur Miete. Jakob Lichtenstein war Vertreter für Musikinstrumente und arbeitete für die bekannte Firma Hohner.

Während der Novemberpogrome 1938 wurde er, wie alle anderen männlichen Juden auch, in ein Konzentrationslager verschleppt. Er war vom 12. November bis 16. Dezember in Buchenwald. Nachdem er unterschrieben hatte, dass er mit seiner Familie auswandern würde, wurde er entlassen. Tragischerweise verstarb Jakob Lichtenstein bereits 1946 in seiner Wahlheimat Amerika.

Berta Helga Kawesch lebte noch 2022 auf Long Island (New York). Auf eine Kontaktaufnahme hat sie nie reagiert. Ihre Schwester Eva Ellen Reinach besuchte Lorsch im Jahre 1981. Sie war Angestellte einer Regierungsbehörde in Washington und lebt seit ihrer Pensionierung in Maryland. Sie war sehr bewegt, als im Zuge der Stolpersteinverlegung für Erna Rohrheimer (2021, Rheinstraße 4) ein Foto ihrer Familie auftauchte, das auch sie als Baby zeigt. Erna Rohrheimer war die Cousine ihrer Mutter, von deren Existenz sie nichts wusste. Ernas Enkel hatte das Foto zur Identifizierung der Personen 2021 mit nach Lorsch gebracht. Bis auf seine Großmutter kannte er die anderen Personen auch nicht.

Die vier Stolpersteine für die Familie Jakob Lichtenstein werden in der Lindenstraße 8 um 17 Uhr verlegt. Anschließend begeben sich die Teilnehmer an der Veranstaltung auf einen Spaziergang durch die Bahnhofstraße zum Verlegeort in der Kirchstraße 5, für Betty und Jenny Lichtenstein. Der Abschluss der Veranstaltung ist wie gewohnt um 18 Uhr an der jüdischen Gedenkstätte in der Schulstraße.

Mit den Steinen für die Familie Lichtenstein finden die Stolpersteinverlegungen einen vorläufigen Abschluss. Die insgesamt 55 Steine sind repräsentativ für die erloschene Lorscher jüdische Gemeinde. Sie stehen allerdings nur für ihre Mitglieder, die zur Zeit des Nationalsozialismus in Lorsch wohnten, von hier flohen oder von hier deportiert wurden. Eine ebenso große Zahl Lorscher Juden, also Menschen die vor allem hier geboren wurden, oder lange hier lebten oder nach Lorsch heirateten, wurde von anderen Orten vertrieben oder deportiert, aus dem Inland oder aus den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten. Für einige gibt es an diesen Orten Stolpersteine, für viele aber noch nicht. Es ist also durchaus möglich, dass es in Zukunft noch zusätzliche Stolpersteine in Lorsch geben wird, wenn es für Lorscher Juden aus diesem Personenkreis anderen Orts keine entsprechenden Initiativen gibt.

 

Thilo Figaj, 1. Vorsitzender

Betty Lichtenstein, Kennkarte, Stadtarchiv Lorsch
Jenny Lichtenstein, Kennkarte, HKV

Vortrag – Sprache der Landjudenschaft

Thilo Figaj. Heimat- und Kulturverein Lorsch

12. Juli 2023, 19 Uhr – Auerbacher Synagoge

„Landjuden und dörfliche Gemeinschaft – Zusammenleben, Arbeitsteilung, Sprache“

Dreihundert Jahre waren Landjuden ein lebendiger Teil bäuerlicher Gesellschaften, vor allem in Süddeutschland. In ihrer soziokulturellen Struktur unterschieden sie sich deutlich von den durch jahrhundertelange Gettoerfahrungen geprägten städtischen Judengemeinden — obwohl sie aus ihnen hervorgegangen waren. Zunächst noch beschränkt durch die Zwänge absolutistischer Herrschaft entwickelten sie ab dem 18. Jahrhundert mit ihren christlichen Nachbarn ein arbeitsteiliges Miteinander und erfolgreiches System dörflicher Gemeinschaft: hier die Bauern und Viehhalter, dort der Land– und Viehhandel. Mit dem Holocaust ist die Landjudenschaft für immer untergegangen. Erhalten geblieben sind Teile ihrer Sprache. Viele jüdische Ausdrücke sind bekanntlich im Deutschen identifizierbar. Ihren bedeutendsten Niederschlag aber haben sie in den regionalen süddeutschen Dialekten gefunden und sind zum Teil bis in unsere Zeit in ihnen lebendig, ohne dass ihr Ursprung heutigen Generationen noch bekannt ist. Thilo Figaj vom Heimat- und Kulturverein Lorsch hat sie gesucht und stellt in seinem Vortrag eine Auswahl vor.

18.08.2021 – Sechste Stolpersteinverlegung in Lorsch am 7. September 2021

Schuhlöffel Abraham Lorch (Foto: Bildarchiv HKV)

Dienstag, 7. September 2021
um 16 Uhr

Rheinstr. 4
anschl. Stiftstr. 26

In diesem Jahr werden wieder unter der Federführung des Heimat- und Kulturvereins an zwei Stellen in der Stadt Stolpersteine für ehemalige jüdische Nachbarn verlegt. Der erste Ort ist die Rheinstraße 4, das ehemalige Wohn- und Geschäftshaus der Familie Eduard Rohrheimer (1880-1949). Die Familie Rohrheimer ist die Familie mit der längsten jüdischen Siedlungskontinuität in Lorsch. Eduard Rohrheimers Tochter Erna (1912 – 1995) war in neunter Generation das letzte am Ort geborene Mitglied. Sie war eine waschechte Lorscherin, auch ihre Mutter Jenny stammte aus einer alteingesessenen Familie. Jenny Rohrheimer, geborene Lorch (1883 – 1937) war die Schwester des bekannten Kaufmanns Hermann Lorch. Tragischerweise verstarb sie früh, und so waren Vater und Tochter während der harten Zeit des nationalsozialistischen Boykotts auf sich allein gestellt. Eduard Rohrheimer hatte im November 1927 in der Rheinstraße zusätzlich zu seinem traditionellen Handel mit Vieh und Landesprodukten für Erna ein Geschäft mit Trikotagen und Wollwaren eröffnet, in dem sie nach ihrem Schulabschluss Ostern 1928 arbeitete. Ältere Lorscherinnen erinnerten sich noch vor einigen Jahren an dieses Geschäft und erzählten, dass Erna für die Stammkundschaft gerne auch sonntags aufsperrte, nach der Messe. Jede Gelegenheit zum Überleben musste genutzt werden.

Erna war von ihren Eltern auf die Höhere Töchterschule nach Bensheim geschickt worden, die damals noch nach der 10. Klasse endete. Ihre Spuren dort haben nun Schülerinnen und Schüler des Goethe Gymnasiums aufgenommen und ihr Schicksal recherchiert. Das Gymnasium, das aus dieser Schule hervorgegangen ist, feiert 2021/22 sein 150. Jubiläum. Als zentrales Projekt plant die Schule die Verlegung von Stolpersteinen für ehemalige jüdische Schülerinnen und deren Familien. Es gelang, einen Enkel von Erna Rohrheimer in den USA ausfindig zu machen und nun zur Verlegung der Stolpersteine nach Lorsch einzuladen. Die Schulgemeinde finanziert das Projekt mit Patenschaften selbst.

Erna und ihr Vater flohen 1938, noch vor dem Pogrom, und fanden eine neue Heimat in Philadelphia. Ihr Erstkontakt in den USA waren die Nachfahren von Moses Rohrheimer, der 1866 von Lorsch ausgewandert war. Erna heiratete 1940 den aus Frankfurt stammenden Kurt Meyer. Ihr Mann diente in der US-Armee, und das von der Familie überlassene Foto der beiden stammt aus der Kriegszeit. 1945 kam ihre Tochter Irene Jeanne zur Welt. Eduard Rohrheimer wohnte in der Nähe seiner Tochter und arbeitete noch ein paar Jahre bei einer Holzhandlung am Hafen von Philadelphia. Nach seinem Tod 1949 betrieb Erna als einzige Nachfahrin das Entschädigungsverfahren in Deutschland.

 

Erna Elise Rohrheimer Meyer (1912-1995) und Kurt Meyer (1913-1987) (Foto: Familie)

Ein Onkel von Ena war also Hermann Lorch, für dessen nach Baltimore geflüchtete Familie seit 2019 Stolpersteine in der Bahnhofstraße 8 liegen. Für einen weiteren ihrer Onkel, Hermanns jüngeren Bruder Abraham Lorch (1887) und dessen Frau Sofie, geb. Lehmann (1877) werden nun zwei Stolpersteine in der Stiftstraße 26 verlegt. Abraham Lorch war Schuhmacher und -händler. Sein Wohn- und Geschäftshaus war das Stammhaus der Großfamilie Lorch, die seit 1820 am Ort wohnte. Leider ist außer der Erinnerung an das Schuhgeschäft nicht mehr viel bekannt über seine Familie. Nach der Bedrängnis durch die Nationalsozialisten, dem Ruin ihres Geschäftes und Verkauf ihres Hauses – was sich aus Dokumenten detailliert ablesen lässt – flüchteten Abraham und Sofie Lorch nach Palästina. Es gibt in den Akten der NS Finanzbehörde den Hinweis auf eine Tochter, der sie offenbar nach Palästina folgten – leider ohne Namensnennung. Nachweise zu Kindern der beiden fehlen in Lorsch und in Lengfeld (Gemeinde Otzberg), von wo Sofie stammte und wo die beiden 1906 geheiratet hatten. Auch eine Suche in den Einbürgerungsakten in Israel führte bis heute zu keinem Erfolg. Und so bleibt ein alter Schuhlöffel, ein Werbegeschenk des Schuhhändlers Abraham Lorch, der einzig greifbare Hinweis auf die Existenz dieser Familie in Lorsch.

Die Verlegungen sind terminiert auf 16 Uhr, am Dienstag, den 7. September 2021. Beginn ist in der Rheinstraße 4, anschließend werden die Steine in der Stiftstraße 26 verlegt. Die an diesem Tag geltenden behördlichen Corona Regeln sind zu beachten.